»Was kann ich wissen?«
»Was soll ich tun?«
»Was darf ich hoffen?«
»Was ist der Mensch?«
Immanuel Kant
»Eine der stillschweigenden Vorannahmen, die in der Metapher vom Wissensstoff transportiert wird, ist die Idee, Wissen könne in einem rein quantitativen Sinn vermehrt werden; so wie man in ein Fotoalbum mehr oder weniger Bilder einkleben kann.« Fritz Simon 1993
Was muss man wissen in einer Welt, die sich immer schneller wandelt, sich die Halbwertzeit des Wissens immer mehr verkürzt und sich Informationen innerhalb von wenigen Minuten googeln lassen?
Vielleicht ist die Frage aber auch falsch gestellt. Denn das gezielte Suchen nach Informationen setzt voraus, dass ich um sie und ihre Bedeutung weiß. Erst wenn ich weiß, was ich wissen will, kann ich gezielt auf die Suche gehen. Hier haben wir ihn wieder, den »hermeneutischen Zirkel« (Hans-Georg Gadamer). Deshalb geht es weniger darum, Fächer abzuarbeiten und die Inhalte fein säuberlich voneinander getrennt in kleinen Portionen zu verabreichen, sondern mehr darum, ein Überblickswissen zu erwerben.
Beispiel Geschichte: Anstatt in der 5. Klasse mit den Ägyptern zu beginnen und nach acht Jahren in der Gegenwart anzukommen könnte man sich mit Fragestellungen beschäftigen, die zeitlich übergreifend sind, wie z. B.
»Wie haben Menschen im Laufe der Zeiten gelebt?«
»Wie haben sich politische Systeme gewandelt?«
»Wie haben Menschen kommuniziert?«
»Welche Arten von Revolutionen gab es?«
»Wie beeinflußt die Wirtschaft die Entwicklung einer Gesellschaft?«
Beispiel Biologie: Hier ließen sich Fragestellungen bearbeiten wie z. B.
»Welche Arten von Fortpflanzung gibt es?«
»Wie kommunizieren Lebewesen miteinander?«
»Wie beeinflussen sich die Elemente eins Ökosystems?«
Hier sei noch einmal auf die sog. Big Questions der School in the Cloud verwiesen.
Zudem darf man Wissen nicht mit Informationen oder gar Daten verwechseln. Wissen konstruiert man sich durch Erfahrungen, durch die Auseinandersetzung mit Informationen, Situationen, Widerständen und auch Menschen. Und es gibt auch nicht Wissen als Stoff, den ich abspeichern kann, wie ich Heu in einer Scheune speichere.
„Das Wort Wissensvermittlung suggeriert eine Modellvorstellung, die aus dem Maschinendenken stammt. Die Lehrperson oder das Lehrbuch zergliedert das gesamte Stoffgebiet in kleine Segmente, die in den Lektionen häppchenweise verabreicht werden. Man erwartet, dass sich die so vermittelten Erklärungen in den Köpfen der Schüler einprägen und sich nach und nach von selbst zu einem Ganzen zusammenfügen. Im Idealfall verhalten sich die Schüler so wie ein Tonband, eine Videokassette oder eine Computerdiskette, auf die man Musik, Texte, Bilder, Daten und Programme überspielen kann: Sie speichern alle Erklärungen der Lehrperson und funktionieren nachher genauso, wie es die vermittelten Daten und Programme erwarten lassen. Im Realfall ist man natürlich großzügiger und rechnet mit Verlusten: Der Lehrer spielt das gleiche Band mehrmals ab, lässt das Überspielte wiederholen, liefert Variationen und lässt üben, üben, üben. […] Dieser mechanistischen Unterrichtspraxis stellen wir das Arbeiten mit Kernideen gegenüber […], die das Ganze in vagen Umrissen andeuten. […] Kernideen sind nicht die Inhalte des Lernens, die in mühsamer Kleinarbeit durchgenommen werden, sondern ein attraktiver Auftakt eines individuellen Lernprozesses. Sie sind Kern und Zentrum eines Arbeitsprozesses, in welchem der Schüler die Hauptrolle spielt und an welchem der Lehrer beratend teilnimmt. Der Stoff, der im mechanistischen Unterricht vom Lehrer vermittelt und vom Schüler gespeichert wird, wächst aus der Kernidee heraus und wird von jedem Schüler auf individuelle Weise entfaltet und ausdifferenziert. Der Monolog des Lehrers wird ersetzt durch den Dialog des Lernenden mit der Sache, die in der Gestalt der Kernidee von allem Anfang an als ganzheitliches Gegenüber anwesend ist. Die Sklavenarbeit des Übens, die der Lernende nur unter drohendem Zwang leistet und die laufend überwacht und kontrolliert werden muss, wird ersetzt durch Reflexion: Der Lernende ordnet und gliedert in der Rückschau die Ergebnisse seines Dialogs mit der Sache. […] Das Wissen, das sich die Lernenden auf diese Weise erarbeiten, unterscheidet sich radikal von mechanistisch vermittelten Wissen. Es ist integrierter Bestandteil der Person und nicht fremder Ballast, weil das Ich für seinen Aufbau verantwortlich war. Es macht den Lernenden autonom und unabhängig von lenkenden und begutachtenden Autoritäten weil er es im Dialog mit der Kernidee aufgebaut hat: Er ist dabei nicht nur der Sache begegnet, sondern auch sich selbst. Reflektierend hat er beide, die Sache und die Person, in ihrer Wechselwirkung kennengelernt und ausdifferenziert. Schließlich ist dieses Wissen auch handlungswirksam, weil es nicht bloß in einem abgelegenen Reservat des Gehirns gespeichert ist, sondern alle Schichten der Person durchdringt.“ (Gallin/Ruf 1990, S. 88f.)
Schon gar nicht ist Wissen transferierbar! Auch nicht durch Medien. Dennoch geistert in den Köpfen ein Medienbegriff herum, der aus der Nachrichtentechnik kommt, das Sender-Empfänger-Modell von Claude E. Shannon und Warren Weaver. Doch dieses Modell hat weder etwas mit menschlicher Kommunikation zu tun, noch mit dem Lernen. Kommunikation ist eben kein Austausch von kodierten Bedeutungen, sondern das Zeigen von eigenen Intentionen (vgl. Austin, J. L. (1965). How to Do Things with Words the William James Lectures Delivered at Harvard University in 1955 / Meggle, G. (1979). Handlung, Kommunikation, Bedeutung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
»Im Mittelpunkt aller besonderen Arten der Thätigkeit nemlich steht der Mensch, der ohne alle, auf irgend etwas Einzelnes gerichtete Absicht, nur die Kräfte seiner Natur stärken und erhöhen, seinem Wesen Werth und Dauer verschaffen will.« Wilhelm von Humboldt
Und auch über den sehr vielfältigen Bildungsbegriff lohnt es sich neu nachzudenken.
Nach Daniel Goeudevert ist Bildung »ein aktiver, komplexer und nie abgeschlossener Prozess, in dessen glücklichem Verlauf eine selbständige und selbsttätige, problemlösungsfähige und lebenstüchtige Persönlichkeit entstehen kann«. Bildung könne daher nicht auf Wissen reduziert werden, denn Wissen sei nicht das Ziel der Bildung, aber sehr wohl ein Hilfsmittel. Darüber hinaus setze Bildung Urteilsvermögen, Reflexion und kritische Distanz gegenüber dem Informationsangebot voraus. Dem gegenüber stehe die Halbbildung, oder, wenn es um Anpassung im Gegensatz zur reflexiven Distanz gehe, auch die Assimilation.
Und für Michael Fullan ist Bildung eine »ethisch begründete Zielsetzungen [… die darin besteht], dass Schule das Leben von Schülern jeglicher Herkunft positiv beeinflussen und dazu beitragen will, aufgeklärte Bürger zu erziehen, die in einer zunehmend dynamisch-komplexen Gesellschaft erfolgreich leben und produktiv arbeiten können.« (Fullan, M. (1999). Die Schule als lernendes Unternehmen. Konzepte für eine neue Kultur in der Pädagogik. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 20)
Eine alternative Definition findet sich bei Henning Kössler: »Bildung ist der Erwerb eines Systems moralisch erwünschter Einstellungen durch die Vermittlung und Aneignung von Wissen derart, dass Menschen im Bezugssystem ihrer geschichtlich-gesellschaftlichen Welt wählend, wertend und stellungnehmend ihren Standort definieren, Persönlichkeitsprofil bekommen und Lebens- und Handlungsorientierung gewinnen. Man kann stattdessen auch sagen, Bildung bewirke Identität […].« (Kössler, H. (1989). Bildung und Identität. In B. U. Identität (Ed.), Identität. Fünf Vorträge. Erlangen)
Die Konferenz der Kultusminister (KMK) hat sich intensiv mit dem Thema Bildung im Zeitalter der Digitalisierung befasst und in ihrem Strategiepapier publiziert. Darin heißt es u. a.:
»Um die Chancen und Potenziale der Digitalisierung pädagogisch begleiten sowie kompetent und kreativ nutzen zu können, hat die Kultusministerkonferenz einen Kompetenzrahmen verbindlicher Anforderungen für die Bildung in der digitalen Welt formuliert.«
Die Gesellschaft für Informatik (GI) hat 2016 die sog. »Dagstuhl-Erklärung. Bildung in der digitalen vernetzten Welt« publiziert.
»In gemeinsamer Verantwortung von Medienpädagogik, Informatik und Wirtschaft fordern wir:
1. Bildung in der digitalen vernetzten Welt (kurz: Digitale Bildung) muss aus technologischer, gesellschaftlich-kultureller und anwendungsbezogener Perspektive in den Blick genommen werden.
2. Es muss ein eigenständiger Lernbereich eingerichtet werden, in dem die Aneignung der grundlegenden Konzepte und Kompetenzen für die Orientierung in der digitalen vernetzten Welt ermöglicht wird.
3. Daneben ist es Aufgabe aller Fächer, fachliche Bezüge zur Digitalen Bildung zu integrieren.
4. Digitale Bildung im eigenständigen Lernbereich sowie innerhalb der anderen Fächer muss kontinuierlich über alle Schulstufen für alle Schüler_innen im Sinne eines Spiralcurriulums erfolgen.
5. Eine entsprechend fundierte Lehrerbildung in den Bezugswissenschaften Informatik und Medienbildung ist hierfür unerlässlich. Dies bedeutet:
a. Ein eigenständiges Studienangebot im Lehramtsstudium, das Inhalte aus der Informatik und aus der Medienbildung gleichermaßen umfasst, muss eingerichtet werden.
b. Die Fachdidaktiken aller Fächer und die Bildungswissenschaften müssen sich der Herausforderung stellen und Forschung und Konzepte für Digitale Bildung weiterentwickeln.
c. Umfassende Fort- und Weiterbildungsangebote für Lehrkräfte aus technologischer, gesellschaftlich-kultureller und anwendungsbezogener Perspektive müssen kurzfristig eingerichtet werden.« (zum PDF)
Und die Charta Digitale Bildung sieht es als Ziel von Bildung an »Urteilsfähigkeit, Kreativität, Selbstbestimmtheit, Gestaltungsfähigkeit, Verantwortungsbewusstsein und Chancen der Teilhabe am Gesellschafts- und Arbeitsleben der Schülerinnen und Schüler zu stärken«.
»1. Im Kontext von Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung haben die traditionellen Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen wesentliche Veränderungen erfahren. Darüber hinaus sind digitale Kompetenzen mittlerweile selbst zu einem festen Bestandteil der Allgemeinbildung geworden und grundlegende Voraussetzung für Mündigkeit in der digitalen Welt, gesellschaftliche Teilhabe und berufliche Entwicklung jeder und jedes Einzelnen.
2. Für die Entwicklung digitaler Kompetenzen müssen alle Schülerinnen und Schüler bereits in der allgemeinbildenden Schule die Phänomene, Gegenstände und Prozesse der durch Digitalisierung geprägten Welt aus (1) technischer, (2) gesellschaftlich-kultureller und (3) anwendungsbezogener Perspektive systematisch reflektieren, ergründen und gestalten können. Dies ist nur auf der Grundlage von Konzepten der Bezugswissenschaften der Digitalisierung möglich.
3. Mündigkeit in der durch Digitalisierung geprägten demokratischen Gesellschaft ist ohne ein Verständnis der Grundlagen und ohne die Befähigung zu ihrer aktiven Mitgestaltung nicht erreichbar. Dazu ist sowohl die fachlich fundierte Vermittlung informatischer Bildung als auch der Erwerb einer wissenschaftlich geprägten Medienkompetenz unerlässlich.« Charta Digitale Bildung